Kapitel 33 Jeden Tag ein kleines Erfolgserlebnis

Irgendwann haben wir Medina mal ein Fahrrad gekauft, ein Damenrad ohne Stange. Vor so einer merkwürdigen Herrenradstange hatte ich Angst. Ich hab nie verstanden, welchen Sinn die Stange macht, außer dass Mann sich fies verletzen könnte, wenn Mann mal abrutschte oder stürzte.
Medinas Rad musste ich auch mal ausprobieren. Seit jenem Morgen im September 1996 hatte ich nie wieder auf einem Fahrrad gesessen. Ich hatte Angst, irgendwer könnte mich dabei sehen, wie ich total versage und mich eventuell zum Gespött aller machen könnte.
Ich konnte eigentlich froh sein, die schrecklichen Tage überlebt zu haben. Dass ich gehen konnte, dass ich mich ausdrücken konnte und mir sogar meine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten konnte, all das konnte nichts daran ändern, dass ich nicht das kleinste Fünkchen Selbstbewusstsein besaß. Ich hatte ständig Angst mich zu blamieren.
Damals hatte ich mir allen Ernstes gewünscht, zum Beispiel keine Beine zu haben. So würde jeder auf Anhieb sehen „Der Typ ist behindert.“ Neben einer offiziell zur Schau getragenen körperlichen Behinderung wäre es nämlich kein Problem gewesen, dass ich auch nicht ganz dicht war. Bei mir musste man aber schon genau hinsehen, um festzustellen, dass mit mir irgendwas nicht stimmte. Genau das war der Grund, weshalb ich mich immer mehr verkroch. Ich sah aus wie ein ganz normaler junger Mann – vielleicht auch damals noch etwas attraktiver als die meisten anderen, aber jede Dummheit, die ich von mir gab, jedes Fettnäpfchen, in das ich stolperte, passte nicht zu meinem gesunden Erscheinungsbild. Jeder, der mich erlebte und mich nicht kannte, würde unweigerlich denken, ich sei besoffen. Früher hatte ich immer meinen Stolz, aber meine Krankheit und die Behinderung hatten es in kürzester Zeit geschafft, mich also den, der ich früher einmal gewesen war zu zerstören. Die beiden, meine Krankheit und meine Behinderung, waren die Einzigen, denen ich zuhörte. Was früher irgendwelche Schläger waren, die Angst und Schrecken in der ganzen Nachbarschaft verbreiteten, waren jetzt diese zwei von den Ärzten, meiner ganzen Umwelt und am Ende auch mir selbst so aufgeputschten und nur deshalb gefürchteten Schatten aus meiner Vergangenheit. Inzwischen war von meinem Stolz, meiner Selbstüberschätzung und meinem Narzissmus nichts mehr übrig geblieben. Ich war nicht mehr Andreas, ich war nur noch krank und behindert.

Mednas neues Fahrrad stand da und lächelte mich förmlich an. Besser gesagt grinste Medinas Damenrad mich frech an „Komm schon! Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?! Jeder Idiot kann doch Fahrrad fahren. Ach nee, Quatsch. Du bist ja behindert …“ Das konnte ich so nicht auf mir sitzen lassen. Um mich nicht zum Gespött der Vorschulkinder in der Nachbarschaft zu machen, schob ich Mediinas Fahrrad erst einmal aufs Feld, wo mich außer meiner Frau niemand sehen konnte. Dort angekommen stieg ich auf den Drahtesel und fuhr ohne Probleme ca. hundert Meter. Total begeistert meinte ich, sie solle nach Hause gehen und ich würde noch eine Runde durch die Felder radeln. Medina allerdings erwiderte, es wäre besser, schnell nach Hause zu kommen, damit wir sofort losfahren, um auch mir ein Fahrrad zu kaufen. In solchen Fällen konnte Medina nicht zögern, oder zuerst abwiegen, ob sie vielleicht den Monatsanfang abwarten sollte. Nein, sobald sich irgendeine Chance bot, wie ich wieder gesünder, besser, fitter oder selbständiger werden konnte, war sie bereit, das letzte Hemd zu geben. So wie man es auch von einer liebenden Mutter erwartet.
Dass ich ihr Mann und nicht ihr Sohn war, ging des Öfteren im Alltagsgeschehen unter. Wir hatten uns alle prima daran gewöhnt, dass sie die Chefin war, die sich um alles kümmerte, während ich immer mehr zum dritten Kind wurde. Zum dritten Kind, das bald zum zweiten Mal in der Pubertät angelangen sollte. Total rebellisch und grundsätzlich gegen alles, was ihm die Obrigkeit – in dem Fall Medina – vorschlug.
Jetzt wurde erst einmal für mich das gleiche Fahrrad gekauft, das Medina gerade bekommen hatte. Während sie ihres nur selten für gemeinsame Radtouren aus dem Keller holte, war ich ständig mit dem Rad unterwegs. Die neue, noch nicht für den Verkehr freigegebene Umgehungsstraße, auf der man in aller Ruhe über das halbe Stadtgebiet fahren konnte, war das perfekte Terrain für meine ersten Touren. Schon bald wurden aus meinen kurzen Spazierfahrten Radtouren mit den Kindern ins Siebengebirge, Touren am Rhein entlang und ähnliche sportliche Großereignisse.

Schon als ich wirklich noch unfähig war irgendetwas Konstruktives auf die Beine zu stellen, wusste ich, dass ich zu meiner kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente etwas dazuverdienen durfte. Langsam wurde mir klar, dass ich sehr wohl in der Lage war, irgendeinen einfachen Job zu erledigen. Meine außerordentliche Intelligenz musste doch zu irgendetwas nütze sein. Die Frage war nur, was ich noch machen konnte. Schule und berufliche Ausbildung waren in meinem Falle nichts mehr wert. Den Traum vom großen Durchbruch in der Musikbranche hatte ich auch an den Nagel gehängt. Ich war total vergesslich und sobald irgendetwas Unvorhergesehenes passierte, war ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Und bei mir ging mehrmals täglich irgendetwas gehörig schief.

Irgendwann erzählte eine ehemalige Nachbarin, dass sie in einer Firma für private Briefzustellung arbeitete und dass dort noch Zusteller gesucht würden. Fahrrad fahren, an der frischen Luft arbeiten, das konnte ich doch. Als ehemaliger Dachdeckergehilfe war ich auch nicht aus Zucker. Wind und Wetter konnten mir nichts anhaben, auch wenn ich grundsätzlich nur bei Sonnenschein und ziemlicher Windstille wirklich in meinem Element war.

„Komm doch einfach mal zur Probe arbeiten“, schlug Susanne vor „dann können wir mal sehen, ob du das kannst.“
Ich war viel zu beeindruckt, um entsetzt sein zu können. Bei meinem ersten Arbeitgeber nach neuer Zeitrechnung traf man auf die Sorte Mensch, die zu nichts mehr zu gebrauchen war. Menschen, die aus den verschiedensten Gründen den Anschluss verpasst hatten, die sich bis zum Inkrafttreten der Hartz-4-Reformen im sozialen Netz verdammt wohlgefühlt hatten, denen jetzt aber klar wurde, dass man so nicht weiterleben konnte, wie es bis dahin ging. Zum Glück waren da auch Abiturienten und andere normale Menschen, die einfach etwas Geld dazuverdienen wollten. Ich hatte wirklich Kollegen, deren man sich nicht schämen musste, würde man ihnen mal unverhofft privat begegnen. Bei der großen Mehrheit war man allerdings froh, wenn man ihnen nur kurz morgens begegnen musste und dann alleine selbstständig seiner Arbeit nachgehen konnte.

Wahnsinn! Der Job war wie für mich geschaffen. Mir wurde ein Bezirk zugeteilt, in dem ich für die Zustellung von durchschnittlich 100 Briefen am Tag verantwortlich war. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, wie zum Beispiel der Suche nach versteckten Briefkästen und völlig sinnlos vergebenen Hausnummern, kannte ich meinen Bezirk ganz schnell in- und auswendig. Um halb neun kam ich zur Arbeit, sortierte meine Briefe in die richtige Reihenfolge und los ging es. Nach ca. 15 Minuten war ich in meinem Einsatzgebiet angekommen und es konnte losgehen. Meine Andreas-Keller-Hektik kam mir bei dieser Arbeit wirklich zugute. Während manche Kollegen gemütlich unser Depot verließen, um erst einmal im nächsten Stehcafé einen Kaffee zu trinken, bevor sie sich ganz gemächlich an die Arbeit machten, gönnte ich mir nicht einmal Zeit für mein Butterbrot, das ich mir zwischen die Briefe gelegt hatte. Gegessen wurde erst nach getaner Arbeit. Meine Briefe waren normalerweise nach etwas mehr als einer Stunde in den Briefkästen und ich konnte mich auf den Rückweg machen. Als Briefträger hätte ich alt werden können. Für den Job musste man auch nicht sonderlich klug sein. Ich hatte meine Erfüllung gefunden.
Leider erwies sich die private Briefzustellung in Deutschland als Fehlinvestition. Mein Arbeitgeber, wie auch die Konkurrenten kamen anscheinend nie aus den roten Zahlen heraus. Deshalb wurde mein Vertrag nach einem Jahr auch nicht verlängert und nach einer kurzen Tätigkeit bei einem anderen privaten Briefzusteller, saß ich wieder auf der Straße.
Kurz nachdem ich begonnen hatte, für ein anderes Unternehmen in meinem gewohnten Bezirk Briefe ausgetragen, ging es dem angeschlagenen Unternehmen plötzlich so schlecht, dass ich bald auch die Arbeit für frisch entlassene Mitarbeiter übernehmen sollte. Da wurde ein Unternehmen bewusst vor die Wand gefahren, um möglichst viele Mitarbeiter freiwillig zum Gehen zu bewegen. Ich musste für weniger Geld zusätzlich zu meinen Briefen, noch einmal die gleiche Menge in einem mir völlig unbekannten Bezirk zustellen. Während man seinen Stammbezirk bald kannte wie die eigene Westentasche, war man im fremden Bezirk mehr damit beschäftigt, die Straßenkarte zu studieren und versteckte Hausnummern zu finden als der eigentlichen Arbeit nachzugehen, nämlich Briefe zuzustellen.
So wurden aus einer ursprünglichen Arbeitszeit von etwas mehr als einer Stunde schon mal nicht enden wollende Stunden, die nicht besonders entlohnt wurden. Auf dem Lohnzettel zählte nur die Anzahl der zugestellten Sendungen, aber nicht der damit verbundene Suchaufwand.
Es ist wohl normal, in derartig niveaulosen Beschäftigungsverhältnissen ausgenutzt, verarscht und über den Tisch gezogen zu werden. Die meisten Mitarbeiter hat das alles auch überhaupt nicht sonderlich gestört. Die fühlten sich ihrem Arbeitgeber zu ewigem Dank verpflichtet, dass sie sich bei ihm ein paar Euro zu ihrem Arbeitslosengeld 2 hinzuverdienen konnten. Dass jeder Idiot in der Lage war, meine Arbeit zu machen, war kein Problem für mich. Ich wusste schließlich genau, dass mich nicht wirklich viel von den anderen Versagern unterschied, aber ich hatte doch schon immer ein sehr genaues Gespür, wenn mich jemand verarschen wollte. Und das war hier eindeutig der Fall. Das Problem waren nicht meine direkten Vorgesetzten oder die Mitarbeiter. Es waren die Machenschaften der Führungsetage, die uns zu armen unterbezahlten Billigkräften machten. Während es dem etablierten Paketdienst blendend ging, wurde die Briefzustellung ausgelagert. Jetzt konnte die Geschäftsleitung jammern, wie schlecht es um seine Briefzustellungsabteilung bestellt war, ohne befürchten zu müssen, auf die gut laufenden Geschäfte des Paketdienstes angesprochen zu werden. Das Ganze war ein ziemlich durchschaubares Spiel. Ich habe hier Menschen getroffen, die durch irgendwelche Schicksalsschläge zu Almosenempfängern geworden waren, die hier einfach nur kämpfen wollten, um mit dieser Arbeit wenigstens wieder ein kleines bisschen Stolz zu erlangen. Ich sollte mich doch glücklich schätzen, dass ich bei doppelter Arbeit und gleichzeitiger Lohnkürzung in dem Sauladen weiterarbeiten durfte, während manche meiner Kollegen gleich vor die Tür gesetzt wurden. Die Firmenleitung setzte Mitarbeiter vor die Tür und bot den verbliebenen an, die Arbeit der anderen kostenlos mit zu übernehmen. Besonders elend fand ich die Reaktionen der meisten „glücklichen“, von denen sich das Unternehmen nicht trennen wollte. Die waren wirklich froh, dass es sie nicht getroffen hatte. Ich war nur froh, als ich das alles hinter mir hatte. Denn ein paar Tage, nachdem man aus unseren Niedriglohn-Jobs Niedristlohn-Jobs gemacht hatte, wurde ich unglücklicherweise krank. Gemeinsam mit meinem gelben Schein hab ich auch gleich meine Kündigung abgegeben. Und wieder stand ich auf der Straße.

Meine Überzeugung: „Ich kann überhaupt nichts“ wurde abgelöst von „Ich kann nur Briefträger, sonst überhaupt nichts“.
Das schleichende Scheitern der Postkonkurenzunternehmen am deutschen Markt sollte also auch das vorläufige Ende meiner Minijobtätigkeit bedeuten.

Wieder war ich absolut unflexibel und hatte keine Ahnung, welche Arbeiten ich überhaupt ausüben könnte. Was ich genau wusste, war, was ich alles nicht konnte. Zum Beispiel konnte ich unmöglich irgendeiner Tätigkeit nachgehen, bei der ich in irgendeiner Weise an einer Kasse saß. Schon der Gedanke, dass jemand sein Wechselgeld reklamieren könnte, trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. Nur keine Verantwortung übernehmen. Mit dieser Einstellung konnte ich natürlich froh sein, wenn ich überhaupt irgendeinen niveaulosen Job bekommen würde, in dem man zwar wie der letzte Dreck behandelt wurde, aber wenigstens irgendwie Geld verdiente. Mal wieder hatte ich keine Idee, wie es weitergehen sollte. Medina war es, die nicht aufgab Kleinanzeigen zu studieren, und mir immer wieder Vorschläge zu machen. Es lag nicht am fehlenden Willen oder an meiner Faulheit, dass ich an jedem ihrer Vorschläge etwas auszusetzen hatte. Die pure Angst versagen zu können war es, weshalb ich mich gegen jeden ihrer Vorschläge wehrte, gegen fast jeden. Irgendwann war einmal ein Subunternehmen auf der Suche nach Personal für den Regalservice eines Supermarktes im Nachbarort. Entweder wurden die Waren im Regal vorgezogen, sprich die Optik des Ladens verbessert, sodass alle Regale voll aussahen, oder man bekam seine Palette mit Neuware zugeteilt, die „verräumt“ werden musste. Verräumen bedeutete ins Regal räumen. Natürlich muss die neuere Ware hinter die ältere, damit die Ware in der Reihenfolge der Herstellung abverkauft wird. Da sich aber neue Ware mit viel geringerem Aufwand ganz nach vorne stellen lässt, war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass nur die besseren Vollzeitkräfte des Hauses das Privileg besaßen, bei der Warenverräumung zu pfuschen. Wir Regalaffen waren sowieso Idioten. Meist ohne nennenswerten Schulabschluss und dankbar, dass uns überhaupt die Ehre zuteil wurde, für Geld arbeiten zu dürfen.
Als nicht lange, nachdem ich den Job begonnen hatte, der Supermarkt meinem Arbeitgeber den Auftrag wieder entzog, um künftig den Regalservice von eigenen Mitarbeitern erledigen zu lassen, saß ich wieder auf der Straße. Ich war ohne Auto nicht in der Lage, früh morgens oder spät abends in eine 15 Kilometer entfernte Stadt zu kommen und auch zeitliche Flexibilität war etwas, womit ich nicht dienen konnte, schließlich wurde ich tagsüber zu Hause gebraucht.
Natürlich war der Supermarkt nicht in der Lage die nun anfallende Mehrarbeit alleine vom Stammpersonal bewältigen zu lassen, also schickte ich unaufgefordert eine Bewerbung an die Marktleitung.
Die nahmen mich nach ein paar Wochen mit Kusshand. Ein paar Wochen müsse man warten, damit ich nicht zu offensichtlich abgeworben worden war. Dann aber waren sie froh, dass sie mich wiederhatten. Ich kannte die Regale und wusste, wo welcher Artikel steht. Ich wusste auch, wo samstagabends, kurz vor Feierabend der größte Umsatz gemacht wurde. Wodka und ähnliche Sauereien standen an allererster Stelle, dicht gefolgt von Kondomen. Die beste Kombination war immer noch: „Wo haben Sie Kondome? … Ach ja, führen sie auch Schwangerschaftstests?“ „Natürlich führen wir Kondome und Schwangerschaftstests! Das sind doch Dinge des täglichen Bedarfs.“
So manchem Kunden, an dem die Nassrasiererindustrie noch keinen Cent verdient hatte, hätte ich gerne noch mit auf den Weg gegeben, dass in der gleichen Ecke auch die Babynahrung zu finden war.
Auch wenn hier nicht der Kunde König war, hätte ich meine Kompetenzen mit einer derartigen Äußerung deutlich überschritten. Und ich wollte doch nicht anecken.

Im Hause mit den wahnsinnig voll guten Qualitätswaren zu unglaublichen, höchstens doppelt so viel wie bei Aldi-Preisen wurden die Aushilfen behandelt, wie der letzte Dreck. Wenn mal ein Kollege krank war, dann hieß es, dass man eben für zwei arbeiten müsse. Allen Ernstes war es normal, dass man mir mitteilte, dass ich halt die Arbeit der anderen mit erledigen müsse, wenn mal ein Kollege krank war. In drei Stunden sollte ich dann die Arbeit für sechs Stunden erledigen. Natürlich, kein Problem. Ein Lieblingsspruch war auch: „Aber heute mal zügig!“ Ich hätte ausrasten können, hab aber lange nichts erwidert. Irgendwann habe ich mich doch tatsächlich mal getraut, zu antworten: „Ich arbeite immer zügig. Sie unterstellen mir, dass ich mir hier normalerweise viel Zeit lasse, indem sie mich auf eine solche Selbstverständlichkeit hinweisen!“
Merkwürdig! Scheinbar hatte ich mit diesem einen Mal, an dem ich mich ausnahmsweise wehrte, meinen Vorgesetzten klargemacht, dass ich kein Idiot war. Ich war sogar etwas viel Besseres, als die allermeisten meiner Vorgesetzten. Aber woher sollten die das wissen? Täglich kam ich demütig zur Arbeit und ließ mich von Trotteln niedermachen. Natürlich gab es auch Kollegen, mit denen ich prima zu Recht kam. Das waren allerdings die anderen Regalaffen und einige der Auszubildenden.
Irgendwann hieß es dann, der gefürchtete stellvertretende Filialleiter wechsle in ein anderes Haus und für ihn bekamen wir einen neuen jungen Menschen vorgesetzt. Der Nachfolger war ein ganz merkwürdiger Typ. Nicht nur, dass die weiblichen, jungen Kolleginnen schwärmten, der Neue sehe verdammt gut aus, er war freundlich und nett. Wenn mal viel zu tun war, dann kam er zu mir in den Gang und half mir. Eine scheinbar unerfüllbare Aufgabe wurde vom neuen Chef nicht heruntergespielt. Von ihm hörte man Dinge, wie: „Wir haben heute viel zu tun. Versuchen wir einfach, so viel wie möglich zu schaffen.“ Oder „Ich habe hier nie pünktlich Feierabend. Kein Problem, machen Sie, dass wenigstens Sie pünktlich nach Hause kommen. Ihre Kinder warten“.

Als nach zwei Jahren mein befristeter Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert werden konnte – sonst hätte mir wohl ein unbefristeter Vertrag zugestanden – wurde mir von eben diesem netten Vorgesetzten ein Arbeitsvertrag vorgelegt, den ich unterschreiben sollte. Ich ging davon aus, dass ich am 31. Dezember zu meinem letzten Arbeitstag antreten sollte. Nachlesen konnte ich das nirgendwo. Nach der mündlichen Zusage der Filialleiterin im Sommer, dass mein Arbeitsvertrag bis Ende des Jahres verlängert würde, hatte ich nie einen neuen schriftlichen Vertrag zu Gesicht bekommen, geschweige denn unterschrieben. Jetzt, als allen Parteien klar war, dass das Arbeitsverhältnis zum Jahresende nicht mehr verlängert würde, sollte ich plötzlich einen Arbeitsvertrag unterschreiben? Der Vertrag, den ich im Dezember unterschreiben sollte, war vier Monate zurückdatiert. Kurz vor Feierabend wurde ich ins Marktleiterbüro gerufen, um schnell zwischen Tür und Angel meine Unterschrift zu leisten, die das verlogene Papier im Nachhinein wirksam machen sollte. Meine Chefin muss sich ihrer Sache wirklich sehr sicher gewesen sein, dass es für Sie doch kein Problem sein konnte, einen Vollidioten, wie mich zu verarschen. Der Vollidiot fragte sich dann aber doch sofort, wieso er jetzt noch seine Vertragsverlängerung unterschreiben sollte?

Nachdem ich das konstruierte Vertragswerk durchgelesen hatte, meinte ich nur, ich könne das so nicht unterschreiben. Ich würde das Papier erst einmal mit nach Hause nehmen.
Da man mich auch heute noch leicht in Grund und Boden reden kann, war ich wirklich froh, dass ich den Vertrag in Sicherheit gebracht hatte. Jetzt hatte ich den schriftlichen Beweis, dass für die letzten vier Monate nie ein schriftlicher Vertrag existiert hatte. Mündlich war immer vom Jahresende die Rede. Mit den verlogenen nie unterschriebenen Papieren als Beweis in meiner Tasche konnte ich also pokern. Jetzt war es kein Problem mehr, meiner Chefin klarzumachen, dass es sich doch wohl um so etwas wie Urkundenfälschung handele, wenn ich das zurückdatierte Papier jetzt noch unterschreiben solle. Und so wurden wir uns schnell einig, das Arbeitsverhältnis erst zum 31. Dezember enden zu lassen. Damit waren auch mein ganzes Monatsgehalt und somit meine Miete und der Unterhalt gesichert, den ich jeden Monat für Niko und Dijana überweisen musste. Von meiner Arbeitskraft, in den hart erkämpften letzten Wochen des Jahres, hatte mein Arbeitgeber nicht viel, da ich an einer fiesen Grippe erkrankte, kurz nachdem mein Beschäftigungsverhältnis ursprünglich enden sollte. Aber wenigstens mein Kontostand zum Monatsende war gerettet.

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